Die Schwierigkeiten des erfolgreichen Warnens: Interview mit dem Journalisten Enno Lenze über seine Erfahrungen im Ukraine Krieg

Mai 23, 2022 | News

Das Phänomen „Warnung“ wird noch immer viel zu unterkomplex gesehen. Was als Warnung bezeichnet wird, ist meist nicht mehr als ein Informationsangebot. Wie die Menschen in der Ukraine damit umgehen, hat der Kriegsreporter Enno Lenze eindrücklich auf Twitter geschildert. Ich habe ihn daraufhin um ein Interview gebeten, um zu prüfen, inwieweit seine Erfahrungen sich mit meinen Überlegungen zu Warnung verbinden lassen. Das Interview fand schriftlich statt und ist im Folgenden wiedergegeben.

 

Lieber Herr Lenze, Sie sind Journalist und Museumsdirektor bei Berlin Story News (www.berlinstory-news.de). Was ist Ihre übliche Tätigkeit und warum sind Sie gerade in der Ukraine?

Ich berate Unternehmen, betreibe das Museum Berlin Story Bunker und bin als Kriegsberichterstatter in Krisen- und Kriegsgebieten unterwegs. Somit war es für mich naheliegend, mir die Situation in der Ukriane selber anzusehen.

Ungewohnt war es, per Auto in ein Kriegsgebiet zu fahren. Sonst geht der Autofahrt immer eine stundenlanger Flug voraus. In der Ukraine wollte ich mit eigenen Augen sehen, wie die Lage im Westen und Osten des Landes ist, wie das Leben in den Städten aussieht und was die Bevölkerung mir erzählt. Die Situation stellt sich vor Ort ganz anders und vielschichtiger da.

 

In welchen Landesteilen der Ukraine sind Sie in letzter Zeit gewesen?

Ich habe weite Teile angesehen. Von Lviv im Westen über Kyiv und Uman in der Mitte bis nach Kharkiv im Osten. Da kein Flugverkehr stattfindet und es eine nächtliche Ausgangssperre gibt, braucht man rund zwei Tage um das Land von Osten nach Westen zu durchqueren.

 

Sie schrieben auf Twitter, dass die Menschen in der Ukraine kaum auf Warnungen vor direkten Angriffen reagieren würden. Das würde ich gerne etwas genauer wissen, zunächst:

Welche Warnkanäle und Warntechnologien haben Sie in der Ukraine wahrgenommen?

Der wohl wichtigste Kanal ist eine App, welche vor Luftangriffen warnt. Diese löst meist zeitgleich mit den Sirenen aus. Zwei Dinge, die wir in Deutschland gar nicht flächendeckend haben.

Die Warnung geht meist für eine Region oder eine Großstadt raus , oft auch für mehrere im Pfad einer anfliegenden Rakete. Daher erhält man mehrmals täglich die Warnung, meist passiert jedoch nichts. Somit geht man irgendwann dazu über, den Alarm zu ignorieren. In Kharkiv wiederum hört man eh die ganze Zeit die Artillerie – ob nun eine Warnung dazu kommt oder nicht, macht wenig Unterschied.

 

Können Sie den Ablauf und die Reaktionen bei einer typischen Warnung, beispielsweise vor einem Raketeneinschlag, in Kiev schildern?

Zunächst hört man auf seinem Handy und auf vielen anderen um einen herum das Sirenengeräusch. Kurz darauf heulen die Sirenen in der Stadt los. Meist blicken die Mensch kurz auf ihr Handy und schalten den Alarm ab.

Dann sehen sich die Leute gegenseitig an und die Umgebung: Reagiert jemand? Weiss jemand mehr? Sieht man schlichtweg etwas am Himmel? Wenn alles ruhig scheint, macht man weiter, wie gehabt.

Zwei amerikanische Journalistinnen schrieben mir während eines Alarms, wo alle seien, sie würden alleine im „Bunker“ sitzen. Der „Bunker“ ist dabei meist einfach der Keller des Hauses. Nach dieser Erfahrung sind sie auch nicht mehr runter gegangen. Bei einem Luftalarm an der Bar mir Blick auf die Stadt zu sitzen, nennt man in so Gebieten auch einen „Logenplatz für den Weltuntergang“.

 

Unterscheiden sich die Reaktionen auf Warnungen in anderen Landesteilen von denen, die Sie in Kiev erlebt haben?

Eigentlich nicht. In den ungefährlichen Gegenden erachten es die Menschen als ungefährlich. In den Gegenden wie Kyiv schlugen dann tatsächlich Raketen ein – aber damit war die Gefahr auch wieder abgewandt. Weitere Raketen erwartete niemand. Und in Kharkiv gab es die ganze Zeit die Gefahr eines Einschlages. Also die Gründe sind verschieden – das Ergebnis das gleiche.

 

Haben sich die Reaktionen auf Warnungen in der Zeit, in der Sie in der Ukraine sind, verändert?

Während ich da war nicht. Jedoch berichteten mir die Menschen vor Ort, dass sie zu Beginn immer in die U-Bahn, eine Tiefgarage oder einen Keller gerannt sind. Dann wurden die Einschläge weniger und sie wurden irgendwie angst-müde. Sie hatten einfach keine Lust mehr wegzurennen. Bis wir dort waren, hatte sich diese Haltung bereits durchgesetzt und wir haben sie übernommen

 

Worauf ist dieser eher gelassene Umgang mit so etwas Schrecklichem wie dem möglichen Einschlag einer Rakete Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

Im Laufe der Zeit gewöhnt man sich irgendwie an alles. Beim ersten Raketenalarm ist man aufgeregt, dann hat man vier bis fünf am Tag. Nach eine Woche steht man nicht mal mehr auf, wenn der Alarm los geht. Und selbst wenn eine Rakete einschlägt, dann hat sie einen ja nicht getroffen, also gewöhnt man sich daran nicht getroffen zu werden. Und so geht es dann weiter.

 

Können wir aus diesen Erkenntnissen vielleicht etwas für das Warnsystem in Deutschland lernen?

An sich sollten wir es einfach nur kopieren: Funktionierende Sirenen in jeder Stadt, funktionierende App. Beides springt in Sekunden an. Unser nicht vorhandes Warnsystem reiht sich einfach in die Sammlung von Peinlichkeiten ein, die sich heute Deutschland nennen.

 

Lieber Herr Lenze, ich danke Ihnen für das Interview!

Mein Fazit aus diesem Interview

Ich sehe viele meiner Überlegungen, die teilweise auf der Forschung von Dennis Mileti aufbauen, bestätigt.

Es ist extrem schwer, Menschen in Gefahrensituationen mit einer Warnung zu einem gewünschten Verhalten zu bewegen. Eine der Hauptfragen ist stets: Ist das wirklich für mich relevant?

 

Selbst in einem Kriegsgebiet, in dem man potentiell jederzeit sein Leben verlieren kann, wird immer noch geprüft, ob man etwas am Himmel sieht – als letztendliche Bestätigung.

 

Hinzu kommt die Gewöhnung, die Alltagsbildung. Auch Krieg wird zum Alltag. Nach einiger Zeit verlieren die Warnungen an Wirkung.

 

Was folgt daraus für Deutschland?

Ich stimme mit Herrn Lenze überein, dass ein flächdeckendes technisches Warnsystem ein wichtiger Aspekt ist. Mein Ausgangspunkt dabei ist jedoch immer, dass dieses vom Menschen zur Technik geplant werden muss. Letztlich müssen immer die letzte Meile (Technik-Mensch) überbrückt und die Fragen der Menschen berücksichtigt werden.

Ich bin der Ansicht, dass echtes Warnen immer eines Feedbackkanals bedarf und dass wir zusätzlich mit sozialen Warnmultiplikatoren arbeiten müssen. Dies habe ich hier beschrieben.

Weiterhin müssen wir uns sehr den beschränkten Möglichkeiten des Warnens (s.o.) bewusst sein und diese offen kommunizieren. Ein Denkweise wie „Wir haben doch gewarnt, die Menschen sind dann eben selber Schuld!“ darf es nicht geben.

In Kürze werde ich mich im Projektbereich dieser Seite verstärkt dem Thema „Warnen“ zuwenden.

 

 

 

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