Interview mit dem ehemaligen Brandoberamtsrat Andreas Ohlwein zu einem Pflichtdienst in Deutschland

Sep 14, 2022 | News

Eine neues Interview aus der Reihe „Stimmen aus Bevölkerung und Bevölkerungsschutz“: Während meiner zehnjährigen Berliner Tätigkeit in der akademischen Ausbildung von Kräften der Gefahrenabwehr entwickelten sich gute Beziehungen zur Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienst Akademie (BFRA). Bestimmte Diskussionen haben sich bis heute erhalten. Daher habe ich mit dem ehemaligen Brandoberamtsrat Andreas Ohlwein über einen allgemeinen Pflichtdienst in Deutschland sowie dessen mögliche Auswirkungen auf den Bevölkerungsschutz gesprochen.

Lieber Andreas, wir kennen uns nun schon eine ganze Weile und du bist in der Rettungs-Community kein Unbekannter, aber das muss nicht jedem so gehen. Kannst du dich kurz vorstellen, was du gemacht hast und aktuell machst?

Ich bin Andreas Ohlwein, 1954 geboren in Berlin (West) und hier aufgewachsen. Nach der 12. Klasse Gymnasium Abgang und Abmarsch in die Berliner Arbeitswelt. Verschiedene Berufserfahrungen im Bauhandwerk, Dienstleistungsgewerbe und kaufmännischem Sektor gesammelt. 1976 bis 1979 Handwerksberuf gelernt und abgeschlossen. 1978 habe ich das erste Mal geheiratet. 1983 bin ich in die Berliner (Berufs-)Feuerwehr eingetreten. Ich war stets den Aufgaben des Rettungsdienstes und der Ausbildung allgemein eng verbunden, wurde aber auch für mehrere andere (Spezial-)Aufgaben eingesetzt. Nach drei Verlängerungsjahren – die  Notfallsanitäterschaft sollte implementiert werden – endgültiger Abschied vom Dienst. Nunmehr bin ich also Pensionär und Rentner im (Un-)Ruhestand. In den Jahren 2020 bis 2022 wurde ich angeworben für Stabsarbeit bzw. Anleitung/Ausbildung in einer zivilen Senatsverwaltung.

Thematisch bin ich immer noch mit dem Metier Feuerwehr und Rettungsdienst verbunden und beobachte mit Sorge die aktuellen Entwicklungen dort. Dazu kommen die aktuellen geopolitischen Entwicklungen mit wenig beruhigendem Charakter. Ansonsten fröne ich meinen handwerklichen Geschicken und meiner reichhaltigen Ausstattung.

 

Wir haben schon viele Gespräche über das Sicherheitssystem in Deutschland geführt. Heute geht es um den Pflichtdienst, der vor einigen Wochen vom Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht wurde. Das wurde teilweise sehr kontrovers diskutiert. Was könnte aus deiner Sicht gegen einen allgemeinen Pflichtdienst für junge Menschen in Deutschland sprechen?

Gegen eine allgemeine Dienstpflicht von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates für das Gemeinwesen spricht eigentlich gar nichts. Klar, es gibt Menschen mit Einschränkungen, die nur sehr bedingt oder überhaupt nicht einsatzfähig sind. Aber auch das gilt es zu diskutieren, denn nicht jede Einschränkung verhindert ein Dazutun zum Gemeinwohl. 

 

Und nun die andere Seite: Was spricht ganz allgemein für einen solchen Dienst?

Nach meinem Dafürhalten sowie Lebens- und Berufserfahrungen war das Aussetzen der Wehrpflicht und des Zivildienstes ein katastrophaler Fehler der damaligen bundespolitischen Administration. Die Selbsthilfefähigkeiten der Bevölkerung sind fatal ins Rutschen geraten und die Diskrepanz zwischen Hilfesuchenden und Hilfeleistenden wird von Tag zu Tag größer.

Die Berichte über die aktuellen Situationen an den Rettungsstellen der Krankenhäuser, im Rettungsdienst und in der Pflege belegen das nur allzu deutlich. Das kann so nicht weitergehen – es führt geradewegs in den Kollaps der Systeme. Es müssen also wieder alle (m/w/d) ran und anpacken lernen. Nur mit Telefonieren, nach Hilfe rufen und ein paar Moneten rüberreichen wird bald nichts mehr zu bekommen sein.

Ich würde gerne noch etwas konkreter auf den Bevölkerungsschutz und die Gefahrenabwehr in diesem Zusammenhang eingehen: Was würde ein solcher Pflichtdienst für diese Bereiche deiner Meinung nach bedeuten?

Bevölkerungsschutz, allgemeine und spezielle Gefahrenabwehr, Kriseninterventionen und Zivilverteidigungen usw. fußen auf dem Wissen und Können von (möglichst vielen) Menschen dieser Gesellschaft! Da helfen keine technischen Errungenschaften oder Anschaffungen, Materialberge und Durchhalteparolen, sondern nur tatkräftiges Anpacken von Freiwilligen, Ehrenamtlichen und Professionellen unter gekonnter Organisation und Führung.

 

Könntest du dir vorstellen, dass auf diesem Weg die Gesellschaft insgesamt auch sicherer werden würde? Hast du da Beispiele?

Je mehr Menschen dieser Gesellschaft es (wieder) lernen, sich selbst und seinen Nächsten Hilfe zu leisten, desto geringer wird nach und nach die (Über-)Inanspruchnahme der öffentlichen Systeme. Die Vorteile einer breit aufgestellten (Selbst-)Hilfefähigkeit liegen auf der Hand: Neben schnellerem Eingreifen in Gefahrenmomenten durch ausgebildete Menschen gibt es ja auch soziale und monetäre Aspekte dazu. Ferner wäre manche Nachwuchsfrage weniger kompliziert – das Grundprinzip ist ja schon mal verinnerlicht worden.

 

Wie siehst du denn die Chance, dass es so einen Pflichtdienst, unter anderem in der Gefahrenabwehr und dem Bevölkerungsschutz, geben könnte?

Alle staatlichen Systeme sollten in das Pflichtjahr integriert werden. Neben den „Zivildienstklassikern“ gibt es den Umweltsektor, Müllentsorgung, Energiegewinnung und viele mehr. In jedem Falle müssen alle Hilfsorganisationen, das Technische Hilfswerk, die Freiwilligen und die Berufsfeuerwehren sowie die Bundeswehr in den Fokus genommen werden.

Menschen, bevorzugt zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr, sind ja im leistungsfähigen Alter (darüber hinaus können alle Älteren sich freiwillig verpflichten). Alle Verpflichteten lernen zunächst die wesentlichen Grundzüge der Hygiene, der (erweiterten) Erste Hilfe und einfache Pflegemaßnahmen nach einem bundeseinheitlichen Konzept. Dann entscheiden sie sich für das Fach, in dem sie gerne wirksam werden wollen.

 

Was wären konkrete Schritte, um hier voranzuschreiten, vor allem nun, da die öffentliche Debatte wieder weitgehend vorbei ist?

Das Ganze schreibt sich sehr einfach. Die grundsätzlichen Voraussetzungen fehlen so gut wie komplett. Also sollten wir schleunigst beginnen.

    1. Gesetzliche Grundlagen schaffen, z.B. GG und KatSG, usw. anpassen
    2. BBK ertüchtigen und bevollmächtigen, insbesondere Personal anwerben, gerne geeignete „Altgesteine“
    3. Alle oben aufgezählten Staatsdienstellen runter bis zur Kommune informieren und Schularbeiten aufgeben – wer soll womit und wie Unterstützung leisten/lernen
    4. Bundeseinheitliches Konzept für Hygiene, Erste Hilfe, Pflege erstellen, schreiben, bekanntmachen

 

Abschließende Frage: Was ist für dich aktuell das wichtigste Thema in Gefahrenabwehr und Bevölkerungsschutz?

Beschluss des Deutschen Bundestages, solches verbindlich in die Staatsdienstordnung und -verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl zu schreiben. Dafür bedarf es einer breiten Aufklärungskampagne – wo stehen wir, wo schlittern wir gerade hin und was ist dagegen zu tun. 

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